Zum Inhalt springen

Wenn virtuelle Realität ethisch bedenklich wird

(Quelle: welt.de/dpa)

Die Idee, Kühen VR-Brillen aufzusetzen, um ihr Wohlbefinden zu steigern und damit die Milchproduktion zu erhöhen, hat für Aufsehen gesorgt. Über die Skurrilität ist viel gelacht und gescherzt worden; der Verweis auf die Matrix-Quadrilogie ist obligatorisch. Dazu kann ich nichts mehr beitragen. Es ist ein ethischer Gedanke, der mich dabei beschäftigt:

Darf man einem empfindungsfähigen Wesen ohne explizites Einverständnis eine bessere, weniger leidvolle Realität vortäuschen?

Wenn die Maßnahme das Wohlbefinden der Kühe steigert, sollte man nicht nur als Tierschützer, sondern auch als empathischer Mensch selbstverständlich dafür sein. Wahrscheinlich bin ich nicht der einzige, der dabei dennoch ein seltsames Gefühl hat, dass es falsch sein könnte. „Falsch“ ist genau das Wort, das hier maßgeblich ist. Der Makel der virtuellen Realität ist es ja, dass sie nicht „echt“ ist.1 Sie ist eine Täuschung, somit eine Form der Lüge. Sie ist deshalb schlecht, weil wir Menschen der Wahrheit einen hohen Wert beimessen. Es gibt viele Beispiele, in denen Menschen großes Leid auf sich nehmen, um selber die Wahrheit herauszufinden oder sie zu verbreiten.

Versteht eine Kuh das Konzept von Wahrheit oder von unterschiedlichen Realitäten?
Nein.
Um zu verstehen, warum es sich immer noch falsch anfühlt, Kühe in eine virtuelle Realität zu stecken, muss man den Wert der Wahrheit genauer untersuchen. Ihr Wert liegt darin, dass sie in Einklang mit der Realität steht und uns damit prinzipiell befähigt, richtige Entscheidungen zu treffen, mit denen wir unser Schicksal selber gestalten können. Dies scheint mir auch die Hauptmotivation zu sein, aus der die Protagonisten in Matrix sich dafür entscheiden, in einer dunklen Welt gegen Maschinen zu kämpfen und eventuell zu sterben, statt ein schönes Leben in der vorgetäuschten Realität zu führen. Man könnte argumentieren, dass dieses Streben rein menschlicher Natur sei und es ethisch nicht verwerflich sei, eine Kuh in eine bessere Realität zu stecken. Doch wieder bleibt ein Einwand: Sein Schicksal selber gestalten zu können ist Freiheit. In letzter Konsequenz wird den Kühen also Freiheit genommen. Sperrte man in der kommerziellen Tierhaltung bisher nur die Körper ein, ist es mit dieser neuen Maßnahme der Geist. Dieser Freiheitsentzug ist in seinem Wesen erschreckend banal: Er ist das bisher fehlende Komplement zur physischen Variante.2 Der Geist als Sitz der Persönlichkeit, des Ichs, der Wünsche und Ängste ist ein Ding, dessen Eingesperrtsein wesentlich unheimlicher erscheint.

Unter dem Aspekt, dass den Kühen mit der VR-Brille ein weiteres Stück Freiheit genommen wird, könnte man diese Technik auch tierschutzrechtlich kritisieren. Selbst wenn wir nicht annehmen können, dass Kühe das gleiche philosophische Verständnis von Wahrheit und Freiheit haben, dass sie ihre Handlungsfreiheit nicht auf die gleiche schöpferische Art nutzen wie wir Menschen, bleibt doch die Frage:

Haben Tiere ein Recht auf Freiheit des Geistes?

Im Rahmen der Massentierhaltung hatte man sich bisher nur auf den körperlichen Aspekt beschränkt. Wie es für das Informationszeitalter typisch ist, bewegt sich der Fokus allerdings langsam weg vom Physischen. Solche Entwicklungen sollten wir zum Anlass nehmen, uns frühzeitig Gedanken zu machen. Dass unser Körper eingesperrt werden kann, der Geist jedoch nicht („Die Gedanken sind frei“) erschien uns bisher als selbstverständlich. Es ist jedoch alles nur eine Frage der Komplexität: der des Geistes und der der täuschenden Technik. Und die Technik entwickelt sich weiter.

 

Fußnoten

  1. Dass unsere Realität eine Täuschung ist, können wir übrigens nicht ausschließen. Das verzweifelte Suchen nach einer endgültigen Klärung hat viele Philosophen zur Schaffung großer Werke angetrieben.
  2. Interessanterweise ist das Einsperren des Geistes nur dann perfekt, wenn der Geist nichts davon merkt. Natürlich könnte man einem Gefangenen sämtliche, sehr wahrscheinlich unangenehmen, Sinnesempfindungen aufzwingen und ihn so unfreiwillig in einer virtuellen Realität halten. Solange er jedoch wüsste, dass er in einer virtuellen Realität ist, hätte er auch die Freiheit, bestimmte Gedanken zu denken, die sich außerhalb dieser befinden. Erst die Überzeugung, in der echten Realität zu leben, würde auch seine Gedanken in Bahnen zwingen, die auf diese Realität beschränkt sind.
Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert