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Die Wiege des Islam (Glen Bowersock)

Bücher arbeite ich für gewöhnlich mit dem Notizblock (meist dem virtuellen) in der Hand durch. Um anderen Menschen etwas Zeit zu ersparen, fasse ich mittels der Notizen gerne einige der bemerkenswerteren Teile eines Buches in einem Artikel zusammen.

Bereits im Prolog des vorliegenden Buches wird deutlich, wie akribisch und genau der Autor arbeitet. Die über 150 Quellennachweise und Anmerkungen legen davon Zeugnis ab. Nirgendwo weicht Bowersock von seinem sachlichen Ton mit außerordentlich hoher Informationsdichte ab; die Fülle an Namen von Königen, Völkern, Religionen und Orten ist beinahe überwältigend. Das Buch macht keineswegs den Eindruck populärwissenschaftlicher Literatur, sondern den einer wissenschaftlichen Arbeit.1 Wie nahezu jede Schilderung historischer Ereignisse wirkt sie ebenso banal wie beliebig – was damals geschah, geschieht heute ebenso, nur mit anderen Namen – auch wenn die Ereignisse den Lauf der Welt beeinflusst haben. So erhält der Leser letztendlich vor allem ein Gefühl des tieferen Verständnisses, einige weiße Flecken in seinem Weltbild werden geschlossen, und er bewegt sich sicherer auf diesem Gebiet.

Es sind gewisse Fakten, die ich bemerkenswert finde (Quellenangaben beziehen sich auf die 2019 erschienene erste Auflage im Verlag C. H. Beck).

Allah hatte wahrscheinlich eine Gemahlin

Sozusagen vorbereitet wird dieses Faktum durch ein anderes: Das arabische Reich war von polytheistischen „lokalen Paganismen“2 durchsetzt. Allah war also nicht immer der eine, einzig wahre Gott. Bereits im fünften vorchristlichen Jahrhundert wurde vom vielzitierten Superstar-Historiker Herodot eine weibliche Form das Namens, Alilat, erwähnt. Später wurde der Name zu Allāt verkürzt. Sie war wahrscheinlich eine Gemahlin Allahs.

Der griechische Polytheismus inspirierte den arabischen Polytheismus

Eine in Palmyra entdeckte Marmorstatue zeigt sie [Alilat] als arabische Athene. Der griechische Polytheismus war für den arabischen Polytheismus ein fruchtbarer Nährboden, aus dem immer wieder Gottheiten mit ähnlicher Funktion und ähnlichem Erscheinungsbild hervorgingen.

[…]

Ares3 war der griechische Name für die äthiopische heidnische Göttin Mahrem sowie für den biblischen Ar, der in Erscheinung trat, als aus dem nabatäischen Toponym Rabbathmoba Areopolis wurde.

(S. 37)

Die Trinität des christlichen Gottes wurde angegriffen

In Sure 4, Vers 171 werden die Christen ausdrücklich als Volk des Buches (oder „Buchbesitzer“) angesprochen […]
In diesen bekannten Versen geht es um das Problem der Trinität, die für jeden Anhänger eines neuen Monotheismus Grund zur Besorgnis war: „Ihr Buchbesitzer! Geht nicht zu weit in eurer Religion, und sagt nur die Wahrheit über Gott! Siehe, Christus Jesus, Marias Sohn, ist der Gesandte Gottes und sein Wort, das er an Maria richtete, und ist Geist [rūh, Atem] von ihm. So glaubt an Gott und seine Gesandten und sagt nicht: ‚Drei!‘ Hört auf damit, es wäre für euch besser. Denn siehe, Gott ist ein Gott; fern sei es, dass er einen Sohn habe.“

(S. 67f)

Dieser Text ist auch Teil einer Inschrift, die sich auf der Innenseite des Oktogons des Felsendoms befindet (siehe S. 131).

Mohammed erkennt in einem Schreiben Jesus als Gottes Sohn an

Mohammed soll an den König (negus) Äthiopiens Folgendes geschrieben haben:

„Ich bezeuge, dass Jesus, der Sohn Marias, Gottes Geist und Sein Wort ist. Das Wort, das Er der guten reinen Jungfrau Maria eingab, und aus diesem Wort gebar sie Jesus.“

(S. 69)

Bemerkenswert finde ich auch das Ende des Schreibens, welches wie eine Drohung wirkt:

„Ich fordere dich und deine Soldaten auf, an Allah, den Allmächtigen, zu glauben. Ich habe es dir kundgetan und dir einen Rat gegeben, nimm ihn also an. Friede sei mit denen, die dem rechten Weg folgen.“

(S. 69)

Eine kanonische Fassung des Korans wurde versucht

‚Uthmān ist vor allem als der Kalif bekannt, der eine kanonische Fassung des Korans, eine Vulgata, in Angriff nahm […] Die Texte, die für die Rezitation oder Lektüre benutzt wurden, waren nicht immer und überall dieselben, und dies galt – und gilt bis heute – als eine inakzeptable Ungenauigkeit im Wortlauf der göttlichen Offenbarung. […]
Es gelang jedoch nicht, frühere Koranexemplare zu vernichten. Palimpseste, die in der Großen Moschee von Sanaa entdeckt wurden, beweisen, dass tatsächlich Texte aufbewahrt wurden, die älter waren als ‚Uthmāns Vulgata.

(S. 109f)

Ursprung der Sunniten und Schiiten und ihres Konfliktes

Dieser zweite Bürgerkrieg der frühen islamischen Geschichten hinterließ bleibende Wunden, da die aufständische Sekte der Charidschiten, die sich von den Anhängern ‚Alis [sic] abgespaltet hatten, an Stärke gewann. […] Sie hatten der Partei ‚Alīs (der schi’at ‚Alī) abgeschworen, deren Anhänger als Schiiten bekannt sind. Dies geschah zur selben Zeit, als die Anhänger Mu’āwiyas, die sich gegen ‚Alī und seine Partei gestellt hatten, ihrerseits den Anspruch erhoben, treue Hüter der muslimischen Praxis (sunna) des Propheten zu sein. Sie bezeichneten sich als Sunni (oder Sunniten) und bildeten eine weitere einflussreiche Gruppe, die aus dem Aufstand der Charidschiten hervorging. Der zweite Bürgerkrieg, dessen Parteien aus den Auseinandersetzungen des ersten Bürgerkriegs hervorgegangen waren, schuf die Bruchlinien zwischen den einander unversöhnlich gegenüberstehenden Gruppen der Schiiten und Sunniten, deren Feindseligkeiten eine lange und zerstörerische Zukunft beschieden sein sollte.

(S. 117f)

Das war vor über 1300 Jahren. Ich frage mich, wie groß der Anteil unter verfeindeten Sunniten und Schiiten ist, der diese Entstehungsgeschichte kennt. Es ist ebenso erstaunlich wie traurig, dass etwas so Furchtbares wie Feindschaft bis aufs Blut aus so geringen Gründen entstehen und potentiell unbegrenzt lange fortbestehen kann. In der heutigen Welt wirkt ein solcher Konflikt längst anachronistisch und behindert das weitere Zusammenwachsen der Menschheit. Wie viele Jahre werden zu diesen 1300 noch hinzukommen?

Saudi Arabia beheads 37 for terrorism crimes, most of them minority Shiites

Trennung von Kalifat und Heiligtum führte zu gefährlicher Vielzahl an Glaubensrichtungen

Mit der gefestigten Herrschaft der Umayyaden in Damaskus und danach der Abbasiden in Bagdad wurde Mekka zu dem Ort, in dessen Richtung gebetet wurde, und zum Ziel der hadsch, der rituellen Wallfahrt. Das politische Zentrum der islamischen Herrschaft jedoch sollte es nie mehr werden. […]
Kein noch so scharfsinniger Bürokrat hätte für die Zukunft des Islams eine flexiblere Struktur schaffen können als die Trennung von Kalifat und Heiligtum (haram). Als zentrales Heiligtum der Gläubigen versammelte Mekka die Muslime zum Gebet, doch möglich wurde damit auch eine gefährliche Vielzahl unterschiedlicher muslimischer Glaubensrichtungen und Staaten. Was geschehen wäre, wenn die Umayyaden von Mekka aus regiert hätten, bleibt eine der großen offenen Fragen der Geschichte.

(S. 120)

Gemeinsamkeiten und Unterschiede der abrahamitischen Religionen

Christen und Juden hatten wenigstens die Bibel gemeinsam, der Koran hingegen war nur den Muslimen heilig. ‚Abd al-Maliks Felsendom erhebt sich auf einem Boden, der allen drei großen monotheistischen Religionen heilig ist, aber das Bauwerk verkündet nur eine Religion, ohne die Möglichkeit einer Koexistenz mit den beiden anderen.

Dass Muslime und Juden gemeinsam die christliche Trinitätslehre ablehnen und dass das heilige Buch der Juden auch den Christen heilig ist, reichte nicht, um alle Nachkommen Abrahams durch ein gemeinsames Band zu verknüpfen. Das hatte zur Folge, dass wir bis heute mit den Unverbeinbarkeiten zu ringen haben, die ‚Abd al-Malik mit dem Felsendom in Jerusalem der Welt vermachte. Das, was Mohammed unter dem Namen „Islam“ der Welt übergab, entwickelte sich in einem Milieu, in dem sich Glaubenslehren und -traditionen vermischten, die nicht miteinander vereinbar waren, und daher kann es kaum überraschen, dass diese Unvereinbarkeiten auch nach der Entstehung des Islams nicht verschwunden sind.

(S. 134f)

(Quelle: eigene Zeichnung)

Die Identität wird durch die Abgrenzung erzeugt. Ein Christ wird die Trinitätslehre niemals aufgeben, dann wäre er kein Christ mehr. Ein Jude kann Jesus Christus niemals als den Messias akzeptieren. Ein Muslim kann sich nicht zu den Völkern des Buches (die Bibel) gesellen. Solange es diese Religionen gibt, werden sie sich in diesen Punkten, die aus ihrer Sicht weltbedeutend sind, unterscheiden. Es gibt deshalb heute Konflikte, und es wird sie immer geben. Selbst ich als Ungläubiger muss erkennen, dass die Tödlichkeit und Brutalität dieser Konflikte, im Rahmen der religiösen Logik betrachtet, der Sache angemessen sind. Dies wird auch in ruhigeren Zeiten drohend über der Gesellschaft hängen.

Fußnoten

  1. Unterstrichen wird dies durch die Erstauflage bei der Harvard University Press, dem Verbleib des Copyrights bei the President and Fellows of Harvard College und der Finanzierung der deutschen Übersetzung aus einem Fonds.
  2. Im Deutschen gibt es keinen Plural von Paganismus (siehe Duden), im Englischen anscheinend schon („countable and uncountable“). Die Übersetzung erscheint an dieser Stelle sehr unbekümmert und direkt.
  3. „der Gott des schrecklichen Krieges, des Blutbades und Massakers“ (Wikipedia)
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