Wenn man über Borges schreiben will, macht man ein gigantisches Fass auf. Aber möglicherweise kann ich das in kleinen Etappen tun, wovon dieser Beitrag eine ist. Ich schrieb bereits über die Bibliothek von Babel. Aktuell lese ich Eine neue Widerlegung der Zeit – und 66 andere Essays. Auf dem Buchrücken heißt es bereits sehr vielversprechend:
Kaum ein Essay ist länger als sechs, sieben Seiten, aber alle bestätigen, dass der Essayist den Erzähler und Lyriker Borges weit überragt.
Das habe ich zuerst als Übertreibung abgetan, denn seine Erzählungen haben ihn zu einem der wichtigsten Schriftsteller des 20. Jahrhunderts gemacht. Aber schon nach der Lektüre einiger Essays muss ich zustimmen, zumal er selbst in seinen Essays einige Passagen hat, die jedem Poeten zur Ehre gereichen würden. Außerdem zeigt sich seine unfassbare, geradezu unmenschlich umfangreiche Bildung, die der Verbindung seines Intellekts mit seiner Leidenschaft für Bücher (er war Bibliothekar) zu verdanken ist. Ich kann nicht einmal erahnen, wie viele Bücher er lesen und hinreichend genau memorieren musste, um beim Schreiben eines Essays die mit zahlreichen Querverweisen (vom Herausgeber des Buches) belegten Verbindungen aufzuspüren.
Sein Leben war Lesen, Bibliotheken waren sein Schicksal. Die Jugend verbrachte der schüchterne, stark kurzsichtige Junge überwiegend in der Bibliothek des Vaters. Aus ihr, der ersten, schrieb noch der 70jährige, habe er „vielleicht nie hinausgefunden“.
[…]
Seit den ersten deutschen Übersetzungen waren die Rezensenten in Ehrfurcht erstarrt angesichts der universellen Bildung des Argentiniers und der philosophischen Orchestrierung seiner Prosa.
(Quelle)
Aus den bisher von mir gelesenen Essays stelle ich nachfolgend einige Exzerpte zusammen.
Bereits zu Beginn des ersten Essays kommt Borges‘ Humor zum Vorschein:
Ich habe bemerkt, daß im allgemeinen die Billigung dessen, der sich in der Situation des Lesers befindet, gegenüber einer rigorosen dialektischen Verkettung nicht mehr ist als träge Unfähigkeit dazu, die vom Autor angeführten Beweise einzuschätzen, sowie verschwommenes Vertrauen auf dessen Redlichkeit. Aber sobald das Buch geschlossen und die Lektüre zerstreut ist, bleibt in seinem Gedächtnis wenig außer einer mehr oder minder willkürlichen Synthese der gesamten Lektüre. Um diesen offensichtlichen Nachteil zu vermeiden, werde ich in den folgenden Absätzen alle strenge, logische Verkettung verwerfen und Beispiele anhäufen.
Wie recht er doch hat! Aber es ist jammerschade, denn eine abstrakte Darstellung ist unendlich viel wertvoller, da sie alle möglichen konkreten Fälle abdeckt. Ich bevorzuge sie, wann immer möglich. Genau genommen erweist Borges‘ seinen Lesern doch einen Bärendienst; denn die für ein tiefes Verständnis notwendige Induktion ist typischerweise schwieriger als eine Deduktion. Der Humor liegt darin, dass er den Intellekt seiner Leser auf elegante Art beleidigt und andeutet, dass er seine Standards bewusst stark senkt. Übrigens bleiben seine Gedanken aktuell. Man werfe einen Blick auf heutige Diskussionen und den Brauch, dort mit Beispielen oder (meistens unpassenden) Analogien um sich zu werfen. Solche Inhalte sind mit geringem geistigen Aufwand zu konsumieren, was uns in unserer gehetzten, informationsüberfluteten Zeit sehr entgegenkommt. Den Aufwand der Induktion, zur Erlangung echten Verständnisses, macht sich anschließend selbstverständlich keiner mehr.
Gedanken zu Metaphysik und Religion
Borges hatte eine Vorliebe für metaphysische Literatur, die er für einen Zweig der fantastischen Literatur hielt. Unter den ersten neun Essays finden sich gleich vier, die sich mit religiösen Ideen beschäftigen: Die Geschichte der Engel, Die Dauer der Hölle, Eine Rechtfertigung des falschen Basilides und Eine Rechtfertigung der Kabbala.[efn_note]Borges scheint ein gewisses Interesse an Rechtfertigungen zu hegen. Es gibt eine Passage in Die Bibliothek von Babel, die mir eher weit hergeholt erscheint, in der beschrieben wird, wie Menschen in all den Büchern nach ihrer eigenen Rechtfertigung suchen.[/efn_note] Zum ersten steuere ich hier kein Zitat bei, aber ich erwähne hiermit die Feststellung, dass gemäß Bibel die Engel lediglich zwei Tage älter sind als die Menschen, da Gott sie am vierten Tage schuf.
Die Dauer der Hölle
Ein interessantes Argument gegen die Ewigkeit der Hölle, deren Konsequenz ja unendliches Leid wäre, aus Die Dauer der Hölle:
Das älteste [Argument] ist das von der bedingten Unsterblichkeit oder Auflösung im Nichts. Die Unsterblichkeit, so argumentiert diese verständnisvolle Anschauung, ist nicht ein Attribut der gefallenen menschlichen Natur, sie ist eine Gabe Gottes in Christus. Sie kann demzufolge nicht feindlich gegen das nämliche Individuum, dem sie gewährt wird, gekehrt werden.
Eine Rechtfertigung des falschen Basilides
Die Grundidee der Kosmogonie des „Erzketzers Basilides“, wie sie in Eine Rechtfertigung des falschen Basilides beschrieben wird:
Am Anfang der Kosmogonie gibt es einen Gott. Diese Gottheit ermangelt auf majestätische Art eines Namens ebensowohl wie eines Ursprungs; daher ihre annähernde Benennung „pater innatus“. Ihr Medium ist das pleroma oder die Fülle: das unbegreifliche Museum der platonischen Archetypen, der intelligenten Wesenheiten, der Universalien. Als Gott ist er unwandelbar, doch gingen aus seiner Ruhe sieben subalterne Gottheiten hervor, die, indem sie sich zum Handeln herabließen, einen ersten Himmel stifteten und ihm vorstanden. Aus dieser ersten demiurgischen Corona trat eine zweite hervor, auch sie mit Engeln, Mächten und Thronen, und diese begründete einen anderen niedrigeren Himmel, der das symmetrische Duplikat des ursprünglichen war. Dieses zweite Konklave wurde in einem dritten reproduziert und dieses in einem noch rangniedrigeren und so fort bis 365. Der Herr des untersten Himmels ist der Herr der Heiligen Schrift, und sein Bruchteil an Göttlichkeit beträgt nahezu Null.
Nicht nur Borges Wortschatz fällt hier auf, sondern auch sein Umgang damit. Besonders gefällt mir der Begriff „demiurgische Corona“. Ein Demiurg ist in der Philosophie ein Weltenerschaffer, die Corona steht bildlich für ein strahlendes Umfeld. Die sieben Götter, die aus dem ersten Gott hervorgingen, bilden also eine demiurgische Corona.
Zentral für Basilides‘ Kosmogonie ist außerdem der Doketismus (die Idee, Jesus habe einen materielosen Scheinleib gehabt).
Dieser [der Erlöser] mußte einen illusorischen Leib annehmen, da das Fleisch erniedrigt. Sein von Leiden unberührtes Scheinbild hing öffentlich am Kreuz, aber der essentielle Christus durchquerte die einander überlagernden Himmel und wurde wieder Teil des pleroma.
Zudem soll Helena von Troja ebenso beschaffen gewesen sein:
… von der tragischen Königin wurde behauptet, nur ihr eidolon oder Scheinbild sei nach Troja entführt worden.
Borges verweist für diesen Helena-Doketismus auf den Phaidros von Platon und Adventures among Books von Andrew Lang, pp. 237-248. Die genaue Stelle habe ich am Ende von Seite 248 aufgespürt:
As Stesichorus fabled that only an eidolon of Helen went to Troy, so, except in the „Iliad“ and „Odyssey,“ [sic] we meet but shadows of her loveliness, phantasms woven out of clouds, and the light of setting suns.
Wie Stesichorus erzählte, ging nur ein Trugbild von Helena nach Troja, so begegnen wir, außer in der „Ilias“ und „Odyssee“, lediglich Schatten ihrer Lieblichkeit, Phantasmen gewebt aus Wolken und dem Licht untergehender Sonnen.
(Übersetzung von mir)
Eine Rechtfertigung der Kabbala
Im letzten der genannten Essays, Eine Rechtfertigung der Kabbala, findet sich eine Sicht auf die Trinität des christlichen Gottes, die ebenso wortgewaltig wie erschreckend und ungewöhnlich ist.
Unmöglich, den Heiligen Geist zu definieren und die grausige dreieinige Gesellschaft, deren Teil er ist, zu verschweigen. Die Laienkatholiken sehen in ihr ein unendlich korrektes, aber auch unendlich langweiliges Kollegium; die Liberalen einen eitlen theologischen Zerberus, einen Aberglauben, mit dem die zahlreichen Fortschritte des Jahrhunderts schon aufräumen werden. Die Trinität reicht selbstverständlich über diese Formeln hinaus. Auf Anhieb stellt sich der Phantasie ihre Auffassung von einem Vater, einem Sohn und einem Geist, die in einem einzigen Organismus ausgebildet sind, als ein Fall intellektueller Teratologie dar, als Mißgeburt, die nur das Grauen eines Albtraums gebären konnte. So glaube ich, doch versuche ich zu bedenken, daß jeder Gegenstand, dessen Zweck wir nicht kennen, zunächst monströs ist.
Auch hier staune ich über die Wörter, die er findet. Der Zerberus mit seinen drei Köpfen ist sehr bildhaft. Die „intellektuelle Teratologie“ ist etwas abgehoben. Téras ist altgriechisch für „Monster“, Teratologie ist die Lehre der Ursachen von Fehlbildungen durch Umweltfaktoren (wikipedia).
Jedoch erkennt Borges den Sinn der Trinität:
Wir sehen ein, daß ein Verzicht auf die Trinität – oder zumindest die Dualität – aus Jesus den gelegentlichen Abgesandten des Herrn, einen Zwischenfall der Geschichte machen würde, nicht den unvergänglichen fortdauernden Empfänger unserer Andacht. Wenn der Sohn nicht der Vater ist, so ist die Erlösung kein unmittelbar göttliches Werk; wenn er nicht ewig ist, so ist es auch nicht sein Opfer: daß er sich zum Menschen erniedrigt hat und am Kreuz gestorben ist.
Ich finde, dass es eine Parallele zwischen Borges‘ Abscheu vor der Vorstellung der Dreifaltigkeit und seinem Unwohlsein in Bezug auf Spiegel gibt, da diese beiden Dinge eine Gemeinsamkeit haben: Die Vervielfachung von Wesen. Zitat aus Tlön, Uqbar, Orbis Tertius:
Vom fernen Ende des Ganges belauerte uns der Spiegel. Wir entdeckten (in tiefer Nacht ist diese Entdeckung unvermeidlich), daß Spiegel etwas Monströses haben. Daraufhin erinnerte sich Bioy Casares, einer der Häresiarchen von Uqbar habe erklärt, die Spiegel und die Paarung seien abscheulich, weil sie die Zahl der Menschen vervielfachen.
Abschließend
Zum Schluss noch ein (weiterer) Beleg für die eingangs erwähnte poetische Sprache (aus Literarischer Genuss):
Aber es gibt verschiedene Unsterblichkeiten.
Eine zarte und sichere Unsterblichkeit […] ist die des Dichters, dessen Name mit einem Platz auf der Welt verbunden ist. So die Unsterblichkeit von Burns, die auf Schottlands Äckern und gemächlichen Flüssen und Hügelzügen liegt; oder die unseres Carriego, die am verschämten, verstohlenen, fast verschütteten südlichen Stadtrand von Palermo überdauert […]. Es kommt auch vor, daß jemand in ewigen Dingen unsterblich wird. Der Mond, der Frühling, die Nachtigallen verkünden Heinrich Heines[efn_note]Borges las deutsche Bücher im Original.[/efn_note] Glorie, das Meer, das grauen Himmel erduldet, die von Swinburne, die langen Bahnsteige und Landungsbrücken die von Walt Whitman. Aber die besten Unsterblichkeiten – die zur Domäne der Leidenschaft gehören – sind noch unbesetzt. Es gibt keinen Dichter, der die totale Stimme des Liebens, des Hassens, des Todes oder der Verzweiflung wäre. Das heißt, die großen Verse der Menschheit sind noch nicht geschrieben. Es ist dies eine Unvollkommenheit, die unsere Hoffnung aufmuntern sollte.