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Die Bibliothek von Babel

Falls mich die Erinnerung nicht trügt, wurde ich auf den von mir sehr verehrten Autor Jorge Luis Borges durch die Erzählung Die Bibliothek von Babel aufmerksam. Wie viele Erzählungen Borges‘ dreht sie sich um eine interessante Idee, die auf eine Art erläutert wird, die eigentlich eine Mischung aus Essay, Kurzgeschichte, Vision und detaillierter, konsequenter Fiktion ist.  Die Idee, die hier im Mittelpunkt steht, ist die einer unendlichen Bibliothek.1

Jedes Buch dieser Bibliothek hat 410 Seiten mit jeweils 40 Zeilen zu je etwa 80 Zeichen (für Berechnungen nehmen wir den genauen Wert 80). Es gibt 25 verschiedene Schriftzeichen: Die 22 Zeichen des hebräischen Alphabets sowie Leerzeichen, Punkt und Komma. Zu jeder der möglichen Kombinationen dieser Zeichen existiert genau ein Buch in der Bibliothek.
Wie viele Kombinationen gibt es? Ein Buch enthält 410 × 40 × 80 = 1.312.000 Zeichen aus einem Vorrat von 25 verschiedenen Zeichen. Das ergibt 251312000 mögliche Kombinationen, d. h. „Texte“. Das entspricht ca. 1,956 multipliziert mit 100000000000000 … (weitere 1.834.080 Nullen) … 000. Diese Zahl hat keinen Namen. Aber man könnte ihr – wie einigen anderen gigantischen, speziellen Zahlen auch – einen geben. Ich halte „Babilliarden“ für passend.

Der Durchmesser der Bibliothek wäre, wie diese Seite vorrechnet, etwa 2,5 × 101.845.199 mal so groß wie der des Universums.

Da alle Kombinationen der Zeichen vorkommen, würde ein Mensch, der sein Leben lang durch die Bibliothek streift, nur mit viel Glück einen einzigen sinnvollen Satz finden. Stellen wir uns einen Satz mit fünf Wörtern zu je fünf Buchstaben vor, so würde dieser inklusive Leerzeichen und Punkt aus 30 Zeichen bestehen. Für 30 Zeichen gibt es 2530 Möglichkeiten oder 867.361.737.988.403.547.205.962.240.695.953.369.140.625. Und wie viele davon wären überhaupt grammatisch korrekt und inhaltlich sinnvoll? Die Bibliothek ist so groß, dass es tatsächlich völlig aussichtslos erscheint, ein sinnvolles Buch darin zu finden. Doch das Faszinierende ist, dass sich tatsächlich jeder Text mit 410 oder weniger Seiten in einem der Bücher befindet (Betrachtungen zu Mehrteilern folgen weiter unten). Genaugenommen findet sich ein Text nur dann in genau einem der Bücher, wenn er das Buch exakt füllt. Sollte er ein Zeichen zu wenig haben, könnte der Rest mit 25 anderen Zeichen aufgefüllt werden, so dass der Text entsprechend 25 mal in der Bibliothek stünde, jeweils mit einem anderen Auffüllzeichen. Wäre noch Platz für 30 Zeichen, dann wissen wir aus der obigen Rechnung, was das bedeutet: Der Text stünde 867.361.737.988.403.547.205.962.240.695.953.369.140.625 mal in der Bibliothek, jeweils mit anderen 30 Füllzeichen am Ende. Und dennoch wäre es aussichtslos, ihn zu finden. Wie die Zahl explodiert, falls eine ganze Seite am Ende frei wäre, oder gar noch mehr, ist mental erst recht nicht mehr zu erfassen. Und warum sollten die 30 Füllzeichen nur am Ende stehen? Sie könnten ja auch zu Beginn stehen. Das verdoppelt die Anzahl der Vorkommen des Textes in der Bibliothek. Es könnten aber auch 11 Füllzeichen zu Beginn, dann der Text, dann 19 Füllzeichen stehen. Die Füllzeichen könnten sich auch auf beliebige Weise über das ganze Buch verteilen. Dies würde den Sinngehalt des Textes in der Regel nicht verändern, weil ein Mensch bei einem Wort wie „Gitaxrre“ das gemeinte Wort erkennen würde, zumal wir hier von einem sinnvollen Text mit entsprechendem Satzzusammenhang ausgehen. Man sieht, dass die bereits explodierten Möglichkeiten auf noch viel dramatischere Weise weiter explodieren (wie viele Möglichkeiten gibt es, alle Kombinationen aus 30 Zeichen in einem 410 Seiten langen Buch zu verteilen?) – dennoch hätte man keine realistische Chance, diesen Text oder irgendeinen wenigstens halbwegs sinnvollen Text dieser Länge zu finden.

In der folgenden Passage zählt Borges beispielhaft einige Bücher auf, die in der Bibliothek stehen.

In der ungeheuren Bibliothek gibt es nicht zwei identische Bücher. Aus diesen unwiderleglichen Prämissen folgerte er [ein Bibliothekar], dass die Bibliothek total ist, und dass ihre Regale alle nur möglichen Kombinationen der zwanzig und so viel orthographischen Zeichen […] verzeichnen, mithin alles, was sich irgend ausdrücken lässt: in sämtlichen Sprachen. Alles: die minutiöse Geschichte der Zukunft, die Autobiographien der Erzengel, den getreuen Katalog der Bibliothek, Tausende und Abertausende falscher Kataloge, den Nachweis ihrer Falschheit, den Nachweis der Falschheit des echten Katalogs, das gnostische Evangelium des Basilides, den Kommentar zu diesem Evangelium, den Kommentar zum Kommentar dieses Evangeliums, die wahrheitsgetreue Darstellung deines Todes, die Übertragung jeden Buches in sämtliche Sprachen, die Interpolationen jeden Buches in allen Büchern, den Traktat, den Beda hätte schreiben können (und nicht schrieb), über die Mythologie der Angelsachsen, die verlorenen Bücher des Tacitus.

Das ist eine faszinierende Auflistung. Ich möchte noch einige andere Bücher erwähnen, die sich in der Bibliothek befinden:

  • Ein Buch, das scheinbar leer ist. Es enthält ausschließlich Leerzeichen. Wie jedes Buch in der Bibliothek, ist es einzigartig. Es nimmt meiner Meinung nach jedoch einen herausragenden, sogar legendären Status ein.
  • Eine Sammlung der verlorenen Schriften aus der niedergebrannten Bibliothek von Alexandria.
  • Die Biographie jedes Menschen. Sollte ein Mensch in die Bibliothek von Babel kommen, bestünde die Möglichkeit, dass er seine Biographie findet, in der steht, wie er in die Bibliothek von Babel kommt und seine Biographie findet.
  • Alle Variationen von „Der Herr der Ringe“ (aufgrund des Umfangs auf vier Bücher aufgeteilt), u. a.
    • aus Sicht Saurons.
    • mit Schlümpfen statt Hobbits.
    • mit einem andersfarbigen Kleidungsstück von Frodo.
    • mit dem Unterschied, dass die Horden aus Mordor in freundlicher Absicht kommen und selbstgebackenen Kuchen und Kekse mitbringen.
    • mit Russen statt Elben. Alle elbischen Texte sind auf Russisch2. Statt des Elbenkönigs Thranduil regiert Putin.
  • Das Buch, das von der Gesamtheit aller Menschen, die jemals gelebt haben oder noch leben werden, durchschnittlich als am lustigsten empfunden würde.
    • nach dieser Bewertungsmethode würde man auch das traurigste, das kurzweiligste, das langweiligste, das obszönste, das rätselhafteste etc. Buch finden. Sogar zu jedem Genre (und den speziellsten Untergenres) würde jeweils das beste Buch zu finden sein. Kein Autor würde ein solches Buch jemals übertreffen können.
  • Wissenschaftliche Bücher, die Antworten auf sämtliche Fragen geben. Es könnten Antworten sein, auf die Menschen niemals gekommen wären. Jedoch müsste der Wahrheitsgehalt jedes dieser Bücher überprüft werden, was der Prüfung fast unendlich vieler beliebiger Theorien gleichkäme. Daraus folgt die Wertlosigkeit dieser Bücher. Stünde man vor einem bedeutenden Werk, könnte man es nicht als ein solches erkennen. Eine vernunftgesteuerte Forschung wäre – falls das Universum menschlicher Vernunft komplett zugänglich ist – ein effizienterer Weg zur Erkenntnis als die Suche nach dem entsprechenden Buch.

Eigene Anmerkungen, Verweise

Verzeichnisse anderer Bücher

Borges hat in der Auflistung weiter oben „den getreuen Katalog der Bibliothek“ erwähnt. Sein Protagonist äußert in seiner Geschichte das Ziel, Verzeichnisse zu finden, die ihm den Ort anderer, bedeutsamer, Bücher verraten:

… ich bin gepilgert auf der Suche nach einem Buch, vielleicht dem Katalog der Kataloge …

Es gibt da jedoch ein Problem. Da zu jeder Kombination der 25 Buchstaben ein Buch existiert, gibt es entsprechend viele Bücher, also auch entsprechend viele Positionen. Wie sähe in einem Verzeichnis ein Verweis auf ein Buch aus? Es wäre keinesfalls – wie man aus seinen Erfahrungen mit gewöhnlichen Verzeichnissen vermuten könnte – eine Zeile, da in dieser viel zu wenig Informationen kodiert werden könnten, um die Position anzugeben. Es gibt Babilliarden (s. o.) viele Positionen. Da der Inhalt eines Buches als die Darstellung einer Zahl in einem Zahlensystem mit der Basis 25 betrachtet werden kann, würde sich die Position eines anderen Buches exakt mit dem kompletten Inhalt eines anderen Buches darstellen lassen. Oder andersherum betrachtet: Jedes Buch in der Bibliothek gibt mittels seines gesamten Inhaltes die Position genau eines anderen Buches an.
Man sieht, dass leider kein Buch ein Verzeichnis anderer Bücher sein kann.
Wem die mathematische Betrachtungsweise nicht liegt, kann es sich folgendermaßen veranschaulichen: Der Durchmesser der Bibliothek ist, wie gesagt, etwa 2,5 × 101.845.199 mal so groß wie der des Universums. Es sollte einleuchtend sein, dass die Beschreibung der Position eines Buches in diesem gigantischen Raum sehr aufwendig sein muss.

Deckungsgleichheit von Position und Inhalt

Da jedes Buch die Position eines anderen kodiert, könnte ein Buch an genau der Position stehen, die sein Inhalt bezeichnet. Falls dies bei jedem Buch so wäre, müsste man nicht mehr nach den Büchern suchen, insofern man den Inhalt kennt. Man wüsste daher genau, wo sich Franz Kafkas Der Prozess befände. Eine sinnvolle Vorgehensweise für den Aufbau einer Bibliothek mit solcherlei positionierten Büchern ist es, die Bibliothek erst in 25 Sektoren aufzuteilen, die jeweils für das erste Zeichen stehen (zur Erinnerung: Es wird das hebräische Alphabet zuzüglich Leerzeichen, Punkt und Komma verwendet). Diese Sektoren werden wiederum in 25 Sektoren aufgeteilt, die für das zweite Zeichen stehen, und so weiter. Die letzten ein oder zwei Unterteilungen grenzen schließlich das Buch in einem der hexagonalen Räume ein. Die Verschachtelungstiefe all dieser Unterteilungen beträgt 1.312.000.

Kodierungen anderer Inhalte als Texte

Die 410 Seiten zu je 40 Zeilen zu je 80 Zeichen aus einem Vorrat von 25 Zeichen entsprechen einem Informationsgehalt pro Buch von (log2 25) × 410 × 80 × 40 ≈ 6092739,32 Bit. Dies sind etwa 743 KiB (Kibibyte; entspricht etwa 762 kB). Das hat Konsequenzen, die über die Vision einer totalen Bibliothek von Borges und seinen Vorgängern weit hinausgehen. Es ist absolut verständlich, dass sie zu ihrer Zeit noch nicht auf die folgenden Gedanken gekommen sind, die sich einem im Jahr 2019 lebenden Informatiker geradezu aufdrängen.

In einem Buch ließen sich zum Beispiel Bilder speichern. Das folgende Bild im JPEG-Format mit einer Auflösung von 1200 × 900 hat eine Größe von 159,5 kB (für volle Auflösung anklicken). Es ließen sich also fast 5 solcher Bilder in einem Buch unterbringen. Im HEI-Format hat das Bild bei ähnlicher Qualität nur 119 kB.

Solche Bücher zu erkennen, ist ein ganz eigenes Problem. Es gibt eine Unzahl Bücher, bei denen eingangs erwähnt wird: „Die folgenden Daten sind im JPEG-Format gespeichert.“ Allerdings wird dies fast nie stimmen. Es könnte ein anderes Format oder purer Unsinn sein, der folgt. Eine Beschreibung des JPEG-Formats kann man auch in einem Buch finden, jedoch beschreibt nur genau ein Buch das Format korrekt. Was für das JPEG-Format gilt, gilt selbstverständlich auch für andere Formate, von denen wir die meisten noch gar nicht kennen. Die Beschreibung des effizientesten Formats (hinsichtlich wahrgenommener Qualität und Dateigröße) befindet sich ebenfalls in der Bibliothek. Wer weiß schon, wie viele Bilder sich damit in einem Buch speichern ließen?

Auch für die Speicherung von Videos in geringerer Auflösung oder für Tondokumente (Musik, Geräusche) ließen sich die Bücher nutzen. Aber die Möglichkeiten erstrecken sich noch darüber hinaus, denn jede Information lässt sich irgendwie kodieren, darunter fallen auch 3D-Modelle, Computerprogramme und Videospiele.

Was man in den Büchern finden könnte, darüber lässt sich fröhlich fantasieren:

  • Ein naturgetreues Foto von Jesus
  • Eine Tonaufnahme der Verlesung der 10 Gebote durch Moses
  • Die Todesschreie sämtlicher Märtyrer
  • Ein Video von Hitlers Suizid
  • Eine Weltkarte, auf der alle vergrabenen Piratenschätze mit einem X markiert sind (sehr speichereffizient wäre eine Vektorgrafik)
  • Ein Computerspiel, das einen Menschen in kürzester Zeit in den Wahnsinn treibt
  • Die schönste Melodie
  • Das Genom eines Bakteriums, das die Menschheit auslöschen würde

Weil Daten auch auf mehrere Bücher aufgeteilt werden können (siehe weiter unten), sind bei der Größe und Totalität der Bibliothek selbstverständlich alle Meisterwerke der Filmgeschichte (auch verlorene oder noch nicht geschaffene) bei richtiger Zusammenstellung der Bücher in hoher Auflösung vorhanden. Da sämtliche Varianten der Filme enthalten sind, kann man sich z. B. auf Titanic mit einem alten Albert Einstein statt Leonardo DiCaprio freuen. Oder auf Breaking Bad, nur dass Skyler das Meth kocht und ihr Mann Walter eine hysterische Nervensäge ist; außerdem läuft die Serie rückwärts, auf aramäisch und in Zeitlupe.

Weitere Gedanken zur Kodierung beliebiger Daten finden sich in meinem Artikel Youtube als universeller Datenspeicher.

Texte über die Bibliothek sind in der Bibliothek

Dieser Text findet sich in der Bibliothek (in einer entsprechenden Transliteration). Ebenso befinden sich dort alle anderen Texte, die über die Bibliothek geschrieben wurden, geschrieben sein werden und niemals geschrieben werden.

Texte, die sich über mehrere Bände erstrecken

Wenn ein Text mehr als 410 Seiten lang ist, muss er sich über mehrere Bücher erstrecken. Borges erwähnte diesen Umstand nicht, eventuell sah er dies nicht vor. Solange ein Text in ein Buch passt, gilt er für den Leser als unveränderliche Tatsache. Bei Texten, die sich über mehrere Bände erstrecken (diese gibt es zwangsläufig), hat der Leser Wahlfreiheit, welches Buch er als den jeweils nächsten Band betrachtet. Beispielsweise würden sich viele der oben genannten Variationen von „Der Herr der Ringe“ einige Bücher teilen. Die übrigen Bücher ließen sich frei kombinieren.

Bücher lassen sich mit anderen verrechnen

Nach dem Prinzip eines One-Time-Pads kann ein Buch ein anderes Buch quasi entschlüsseln und in einen sinnvollen Text überführen. Hierbei wird Zeichen für Zeichen des einen Buches mit dem Zeichen des anderen Buches an derselben Position verrechnet. Es gibt verschiedene Methoden zur Verrechnung. Die einfachste wäre, den Zeichen die Werte von 0 bis 24 zuzuordnen und diese zu addieren. Falls das Ergebnis größer als 24 ist, nimmt man das Ergebnis der Restdivision (Modulo) durch 25 als Ergebnis. Dieses numerische Ergebnis überträgt man dann wieder in das entsprechende Zeichen.
Beispiel: Des besseren Verständnisses halber nehmen wir hier das lateinische Alphabet und weisen den Buchstaben von A bis Z die Werte 0 bis 25 zu; Leerzeichen, Punkt und Komma bekommen die Werte 26 bis 28. Findet ein Abenteurer ein Buch, das mit den Zeichen M.GDZ beginnt, so erscheint dies erst sinnlos. Er könnte nun ein anderes Buch nehmen und es nach der genannten Methode mit dem ersten verrechnen. Das andere Buch beginnt mit YCFIS.

In nicht streng mathematischer Notation (Zeichen bzw. ihre numerische Darstellung sind durch eckige Klammern eingefasst) wäre die Rechnung:
[(M + Y) mod 29] [(. + C) mod 29] [(G + F) mod 29] [(D + I) mod 29] [(Z + S) mod 29]
=>
[(12 + 19) mod 29] [(27 + 2) mod 29] [(6 + 5) mod 29] [(3 + 8) mod 29] [25 + 18) mod 29]
=
[7][0][11][11][14]
=>
[H][A][L][L][O]

Die totale Beliebigkeit der Ergebnisse nimmt dieser Methode jedoch etwas von ihrer Faszination. Zu jedem Buch existiert genau ein anderes, das jenes in einen bestimmten Text verwandelt. Dasselbe Buch könnte zu den ersten 410 Seiten der Bibel, zu aufeinanderfolgenden Wiederholungen von Goethes Faust I oder des Satzes „Ich bin ein sich wiederholender Satz.“, zu einem Suppen-Rezeptbuch, zum legendären Buch der Leerzeichen und so weiter verrechnet werden. Abhängig ist dies nur von dem zweiten Buch, mit dem das erste verrechnet wird. Jedes der möglichen Ergebnisse steht bereits als Buch woanders in der Bibliothek.

Gravitation und der Verbleib toter Bibliothekare

Der Erzähler schreibt:

Wenn ich tot bin, wird es genug mitleidige Hände geben, mich über das Geländer zu werfen; mein Grab wird die unauslotbare Luft sein; mein Leib wird immer tiefer sinken und sich im Wind des unendlichen Sturzes zersetzen und auflösen.

Zum Verständnis: Es gibt große Luftschächte, die von einem Geländer umgeben sind. Diese Schächte sind selbstverständlich so lang, dass man sie als quasi unendlich lang bezeichnen könnte. Das Fallen der Bibliothekare wirft die Frage auf, in welche Richtung sie fallen. Wo ist unten in dieser Bibliothek, die unvorstellbar viel größer ist als unser Universum? Unten ist dort, wo die Gravitation einem die Füße hinzieht. Solange man sich nicht genau im Mittelpunkt der Bibliothek befindet, nimmt man die Richtung zum Mittelpunkt als unten wahr. Da die Luftschächte nicht alle Richtung Mittelpunkt führen, sondern der architektonischen Beschreibung nach parallel zueinander zu verlaufen scheinen, betrachten wir im Folgenden der Einfachheit halber den einen Schacht, der durch den Mittelpunkt geht. Ein Bibliothekar, der in diesen hineingeworfen wird, erreicht irgendwann den Mittelpunkt, durchquert ihn und wird anschließend langsam abgebremst, bis er sich wieder in dessen Richtung bewegt. Das ganze wiederholt sich wie eine Pendelbewegung, bis der Leichnam in der Mitte der scheinbaren Unendlichkeit zur Ruhe kommt.

Vorausgesetzt, er ist in der Nähe des Mittelpunktes in den Schacht geworfen worden, sonst löst er sich vorher in seine Moleküle auf: Da der Durchmesser der Bibliothek 2,5 × 101.845.199 so groß ist wie der des Universums, wird der Leichnam fast sicher so weit vom Mittelpunkt entfernt seinen Sturz beginnen, dass er sich – wie im Zitat aus der Erzählung beschrieben – im Fallen auflöst. Die Autolyse seiner Zellen und andere chemische Zersetzungsprozesse werden sein Fleisch aufweichen, während Staub, Dreck und Fasern sich im Wind des Falles unsichtbar von seiner Kleidung lösen. Vermutlich wird sein Fleisch im Zustand halber Verwesung durch den steten Luftstrom ausgedörrt und mumifiziert. Nachdem sich die Kleidung komplett aufgelöst hat, wird das staubtrockene Fleisch nach und nach im Wind verstreut, danach das Skelett abgetragen; wobei dieser Vorgang für menschliches Empfinden sehr lange dauern wird, in den Dimensionen der Bibliothek jedoch nicht einmal einen Augenblick.
Schließlich werden all die Moleküle aller verstorbenen Bibliothekare sich im Mittelpunkt sammeln und eine – aufgrund der nahezu perfekten Durchmischung homogen wirkende – ungefähr kugelförmige Masse formen, solange dies der Durchmesser des Schachtes zulässt.

Das von Borges beschriebene Sterben und die Auflösung der Bibliothekare stehen im Gegensatz zur Ewigkeit der Bibliothek. Dem nachdenklichen Leser wird vielleicht aufgefallen sein, dass sich auch sämtlicher Staub der Bibliothek in der Mitte sammeln müsste. Doch woher sollte dieser kommen? Würde sich auch nur gelegentlich ein Molekül von den Büchern oder der Bibliothek selbst lösen, so würde sie unweigerlich zerfallen. Sie muss unzerstörbar sein; das wird im Folgenden noch eine Rolle spielen.

Die Gravitation ist bereits angesprochen worden. Das Problem ist ihre Stärke. Da die Bibliothek zum Großteil aus Luft besteht, schätze ich grob ab, dass etwa 25 Erddurchmesser von ihrem Mittelpunkt entfernt die Gravitation bei 1 g (also Erdschwerkraft oder Erdbeschleunigung) liegt, weil man dann 25 Erddurchmesser „mehr Bibliothek“ mitsamt ihrer Masse unter sich hat als über sich. Je weiter man sich vom Mittelpunkt entfernt, desto stärker wird dieses Ungleichgewicht zwischen der Masse unter und der über sich, desto stärker wird also die Gravitation. Diese bekommt selbstverständlich nicht nur jeder Bewohner (aufgrund der unbegrenzten Aufenthaltsdauer kann man sie nicht Besucher nennen) zu spüren, sondern auch die Wände und Decken der Bibliothek selbst. Die Intuition sagt einem, dass sie ab einer gewissen Gravitation nachgeben und zum Mittelpunkt stürzen müssten, wobei sie alles mit sich reißen und sich so verdichten müssten, dass ein Schwarzes Loch entstünde. Doch wäre selbst der feinste Riss im Gemäuer ein Zeichen für die Löslichkeit der Moleküle voneinander; einer Löslichkeit, die es nicht geben kann, da sie im Widerspruch zur ewigen Existenz der Bibliothek stünde.
Die Expeditionen durch die Bibliothek blieben unter dieser physikalischen Betrachtung auf die Bereiche beschränkt, in denen ein Mensch die Schwerkraft noch ertragen könnte.

Verweise

Die Bibliothek von Babel online

Dass hier das lateinische Alphabet verwendet wird, ist nicht ganz werkgetreu, aber angemessen. Selbstverständlich sind die Bücher nicht gespeichert, die jeweilige Seite wird in dem Moment generiert, in dem man sie aufruft. Augenscheinlich funktioniert diese Seite, indem die Inhalte als Zahlen kodiert werden. Aus dem Grund sind die URLs zu den Seiten ähnlich lang wie die Seite selbst (siehe dazu meine Anmerkung „Verzeichnisse anderer Bücher“), wobei sie anscheinend die jeweilige Seite mit der Basis 36 kodieren, was noch stark optimierbar wäre. Dies ist eine zufällige Beispielseite.

Man kann in der Bibliothek auch bestimmte Texte suchen. Ich vermute, dass im Hintergrund der Suchtext in eine Zahl umgewandelt wird, die dann als Faktor in der Zahl erscheinen muss, die die Seite kodiert.

Tar for Mortar – „The Library of Babel“ and the Dream of Totality

Dies ist ein etwa 100-seitiges Buch, das vom Entwickler der oben genannten Onlineversion der Bibliothek von Babel geschrieben wurde. Es ist am 13. März 2018 erschienen.

Conclusio

Die Kombinationen aller Zeichen in den Büchern ließen sich zwar nacheinander erzeugen. Die Bibliothek von Babel schöpft ihre Faszination jedoch daraus, dass alle Möglichkeiten gleichzeitig physisch existieren. Hinzu kommt der unergründliche und mystische Zufall: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Bewohner bei seinem ersten Griff ins Regal ein Buch nimmt, das tatsächlich Gedanken enthält, die das Schicksal der Menschheit3 ändern, die vielleicht ein Mensch nie hätte ersinnen können, ist größer als 0.

Fußnoten

  1. Diese besteht aus mehreren sechseckigen Galerien „mit weiten Luftschächten in der Mitte […]. Zwanzig Bücherregale, fünf breite Regale auf jeder Seite, verdecken alle Seiten außer zweien. […] Eine der freien Wände öffnet sich auf einen schmalen Gang, der in eine andere Galerie […] einmündet.“
  2. Obwohl nur hebräische Schriftzeichen zur Verfügung stehen, sind Transliterationen in andere Sprachen möglich. Das beste Beispiel liefern die elbischen Texte in „Der Herr der Ringe“, die in lateinischen Zeichen geschrieben sind. Während existierende, auf natürliche Art gewachsene Transliterationen normalerweise Kompromisse eingehen und daher verlustbehaftet sind, ist eine verlustfreie Kodierung eines Alphabets mittels der Zeichen eines anderen Alphabets prinzipiell stets möglich.
  3. Welche Schicksale die Menschheit haben könnte, wenn die Bibliothek das Universum darstellt, wird in der Erzählung nicht geklärt. Die Bezüge zum gnostischen Evangelium des Basilides, der Mythologie der Angelsachsen und der verlorenen Bücher des Tacitus (siehe weiter oben) verraten eine auf rätselhafte Weise bestehende Verbindung zu der Welt, wie wir sie kennen; eine Verbindung, die streng genommen nicht möglich sein sollte. Bedeutung hätte nur, was in der Bibliothek geschieht und ist.
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