Wir halten uns für selbstbestimmt, wenn wir eine freie Wahl treffen können. Der Grad der effektiven Selbstbestimmung hängt allerdings auch vom Wissen ab. Es gab einige Dinge, bei denen ich mangels bestimmter Informationen früher anders entschieden hätte – nach bestem Wissen und Gewissen. Mein Gewissen hat sich nicht geändert, auch meine Ziele sind im Wesentlichen gleich geblieben. Aber mein Wissen habe ich erweitert.
Wenn man vermeintlich frei entscheidet und bloß mangels Wissen ungewollte Ergebnisse erhält, ist das ein Einschnitt in die Selbstbestimmung. Insbesondere, wenn man gar nicht selbst schuld an dem Unwissen ist oder einem gezielt falsches Wissen vermittelt wurde.
Es scheint schwierig, einen Anspruch auf Wahrheit als Kinderrecht zu formulieren, zu viel Streit gibt es um „die Wahrheit“. Aber aus den obigen Überlegungen folgend, könnte man gesetzlich festlegen, dass Kinder zu einer möglichst hohen Selbstbestimmung befähigt werden sollen. Eine solche Selbstbestimmung erscheint uns Erwachsenen so wichtig, dass wir nicht selten bereit sind, dafür zu sterben und zu töten. Es ist eine große Nachlässigkeit und Ungerechtigkeit, wenn wir die Chancen von Kindern auf Selbstbestimmung nicht zu maximieren versuchen.
Aus dieser Zielsetzung folgt implizit, dass wir Kinder nicht indoktrinieren und zu Vehikeln von Ideologien machen, sondern ihnen das Wissen vermitteln, welches sie zur möglichst effektiven Erreichung jeglicher Ziele benötigen. Ein solches Wissen muss zwangsläufig eine möglichst hohe Übereinstimmung mit der Realität haben, denn jede Abweichung steht der Zielerreichung im Weg. Umgangssprachlich wird ein solches Wissen als „Wahrheit“ bezeichnet. Gemäß Wissenschaft kann es natürlich nur eine Annäherung an die Wahrheit geben, die aber immerhin von einigen vergangenen Irrtümern befreit ist. Und das ist eine große Chance für die Menschheit: Vergangene Irrtümer müssen nicht von jeder Generation erneut begangen werden, geschweige denn, ihr eingetrichtert werden.
Das Kinderrecht dient gesellschaftlichen Interessen
Das beschriebene Kinderrecht dient nicht nur dem individuellen Wohl des Kindes. Tatsächlich ist der Nutzen für die Gesellschaft langfristig noch größer. Ein wesentlicher Teil von gesellschaftlichen Spaltungen und Konflikten mit Demokratie und Grundgesetz kommt von Verschwörungsmythen, kontrafaktischen Narrativen, Ideologien und Religionen. Weil die Bildung in demokratischen Staaten meistens das Zusammenleben fördert und Kinder ermächtigt, sticht es ganz besonders hervor, dass vielerorts an einem bekenntnisorientierten Religionsunterricht festgehalten wird, der realitätsferne Ansichten fördert.
Hoffnungsschimmer „Kinderrechte ins Grundgesetz“?
Der Versuch, Kinderrechte ins Grundgesetz aufzunehmen, ist leider gescheitert. Es gibt jedoch ein ganz bestimmtes Adjektiv im vorgeschlagenen Text, welches Hoffnung macht.
Die verfassungsmäßigen Rechte der Kinder einschließlich ihres Rechts auf Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten sind zu achten und zu schützen. Das Wohl des Kindes ist angemessen zu berücksichtigen. Der verfassungsrechtliche Anspruch von Kindern auf rechtliches Gehör ist zu wahren. Die Erstverantwortung der Eltern bleibt unberührt.
Die Rede ist von „eigenverantwortlich“. Mit Religionen oder sonstigen indoktrinierten realitätsfernen Geschichten, die spätere Entscheidungen unwillkürlich in bestimmte Bahnen zwingen, ist Eigenverantwortlichkeit nämlich schlecht zu vereinbaren (in einigen Fällen gar nicht). Religionen haben mit jenseitigen Strafen sogar noch ein exklusives Mittel, um bestimmtes Handeln bei Gläubigen zu erzwingen. Es erscheint mir plausibel, dass einige konservative Politiker sich insgeheim an dem Wort „eigenverantwortlich“ besonders gestört haben. Die CDU hat gegen den Text gestimmt.
… der Staat könnte sein Wächteramt missbrauchen und zu sehr in die Elternrechte eingreifen. „Wir möchten keinen übergriffigen Staat“, betonte der stellvertretende Fraktionschef der Union im Bundestag, Torsten Frei, im Deutschlandfunk.
deutschlandfunk.de
Es ist eigentlich die Rolle der FDP, auf staatliche Übergriffe sehr allergisch zu reagieren, diese jedoch stimmte für den Text. Wie realistisch kann die Furcht vor einem übergriffigen Staat aufgrund dieses Textes überhaupt sein?
Offiziell besorgt der Eingriff in die Elternrechte die CDU am meisten. Ein besonders wichtiges Elternrecht ist es offenbar, dass Eltern ihre eigene Weltanschauung ihren Kindern aufprägen können. Diese Weltanschauungen können beliebig veraltet und unsinnig sein. Gerade Religionen können fast nur durch Weitergabe an Kinder fortbestehen. Dies nennt man vertikale Verbreitung im Gegensatz zur heute fast erfolglosen horizontalen Verbreitung (Missionierung, Eroberung). Ein aufgeklärter, skeptischer Erwachsener winkt bei Behauptungen, wie sie typischerweise von heiligen Schriften aufgestellt werden, nur müde ab. Für religiöse Menschen hat die Indoktrination der eigenen Kinder daher einen extrem hohen Stellenwert.[efn_note]Es geht nicht nur um die bloße Verbreitung der eigenen Weltanschauung. Religiöse Eltern haben verständlicherweise die Sorge, dass ihre Kinder in die Hölle kommen, falls sie nicht gläubig werden oder nicht getauft sind. Eltern wollen ihre Kinder vor Leid schützen. Übrigens zeigt sich auch in diesem Fall, dass das Ziel (Leidensfreiheit des Kindes) mangels realitätsnahen Wissens eher nicht erreicht wird, die Selbstbestimmung also eingeschränkt ist. Streng religiös aufgezogene Menschen führen seit hunderten von Jahren erbitterte Kriege gegeneinander und greifen auch Ungläubige an. Das Leid wird also vergrößert.[/efn_note] Mitglieder der CDU sind überdurchschnittlich religiös. Deshalb komme ich zu der begründeten Vermutung, dass sie diese Verbindung von Eigenverantwortlichkeit, Elternrechten und dem Fortbestehen ihrer religiösen Überzeugungen sehen.