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Das gute Motiv annehmen

Wer sich als jemand betrachtet, der offen und freundlich auf Menschen zugeht, der sollte auch darauf achten, sie nicht leichtfertig und ohne gute Gründe zu verurteilen. Die meisten Menschen würden sich als freundlich charakterisieren, jedoch ist in öffentlichen Diskussionen sehr oft zu beobachten, dass dem Gesprächspartner in Ermangelung besseren Wissens böse Motive oder intellektuelle Unterlegenheit zugeschrieben werden. Es scheint dies der Normalfall zu sein.

Daher möchte ich die Frage stellen: Was wäre denn verloren, wenn man aus den denkbaren Gründen, die der Gesprächspartner für das Gesagte oder Getane hat, denjenigen annähme, der seiner Würde am wenigsten schaden und ihn am wenigsten verletzen würde?

Möglicherweise stellt sich die Frage nach alternativen Erklärungsmöglichkeiten der Worte und Taten anderer kaum noch jemandem, weil das Misstrauen insbesondere zwischen politischen Lagern gestiegen ist. Besonders absurd wird es – und auch das beobachte ich sehr häufig – wenn jemand eine negative Annahme über jemanden macht und ihm diese dann öffentlich vorwurfsvoll unterstellt, typischerweise in einer Form wie: „Ach, dann meinst du also auch, dass …“, was eine Diffamierung ist.

Da ich gerade diejenigen Meinungen, die konträr zu meiner stehen, für meinen persönlichen Gewinn zu nutzen weiß, kenne ich keine Gesprächsgegner, sondern nur -partner.[efn_note]Ausnahmen sind unbelehrbare Personen, die mir bekannte falsche Argumente zu einem mehrfach diskutierten Thema präsentieren, zu dem es schon seit langem keine neuen Erkenntnisse mehr gab, die auch nur in Richtung ihrer Argumente deuten würden. Von diesen Personen kann weder ich etwas lernen, noch sie von mir.[/efn_note] In diesem Geiste biete ich dem anderen gegebenenfalls positiv konnotierte Erklärungen[efn_note]Einer Meinung, die ich begründet für falsch halte, liegt wahrscheinlich irgendein Mangel zugrunde, der ein Inhalt dieser Erklärung sein kann, aber nicht muss. Sollte der Gesprächspartner ein hohes Aggressionspotential haben, ist es anzuraten, ihn subtil auf den Weg zur Lösung zu bringen, ohne dass er sich zurechtgewiesen fühlt.[/efn_note] für seine Meinung an. Bei sachlicher Falschheit oder Ungeeignetheit für seine Argumentation kann er diesen immer noch widersprechen. Für ungeeignet halte ich es hingegen, ihm schlechte Dinge zu unterstellen, gegen die er sich vielleicht nicht einmal zum Wohle seiner Argumentation, sondern allein schon aufgrund seiner Würde verteidigen muss.

Anwendung im Rahmen Poppers Toleranz-Paradoxons

Ein besondere Anwendung findet meine Einstellung im Rahmen von Poppers Toleranz-Paradoxon.

Bei intoleranten Menschen unterscheidet Popper zwei Kategorien:

  1. Intoleranz des ersten Grades: intolerant gegenüber den Sitten und Gebräuchen eines Menschen, weil sie fremd sind.
  2. Intoleranz des zweiten Grades: intolerant gegenüber den Sitten und Gebräuchen eines Menschen, weil diese intolerant und gefährlich sind.

So verweigere ich mich des Beitrags zur Verhärtung von Fronten und des (anscheinend gesellschaftlich-zwangsneurotischen) Ausbaus der Links-Rechts-Dichotomie, indem ich bei augenscheinlicher Intoleranz anderer Menschen erst einmal vom Besseren ausgehe: der in Punkt 2 genannten begründeten Intoleranz, die lediglich eine angemessene Antwort auf eine aus anderer Motivation entstandene Intoleranz darstellt (konzise formuliert im bekannten Motto: Kein Fußbreit den Faschisten!). Falls möglich, suche ich das weitere Gespräch, um Klarheit darüber zu erlangen, welcher Art die Intoleranz ist.

Fußnoten

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